Rückenschmerzen gehören zu den am weitesten verbreiteten Beschwerden weltweit – eine Belastung, die Menschen aller Altersgruppen betrifft, von Kindern bis hin zu älteren Erwachsenen. Warum ist das so? Ließe sich dies im Hier und Jetzt "einfach" ändern, und welche Zukunft erwatet unsere Rücken?
Rückenschmerzen: Eine weltweit wachsende Herausforderung
Die Prävalenz, also die Häufigkeit von Rückenschmerzen, ist beeindruckend: Sie sind die führende Ursache für Behinderungen weltweit und tragen erheblich zu verlorenen Lebensjahren durch Behinderung (Disability-Adjusted Life Years, DALYs) bei. Die Häufigkeit und die daraus resultierenden Einschränkungen verdeutlichen, dass Rückenschmerzen nicht nur als individuelles Problem, sondern als globale Herausforderung betrachtet werden müssen (Hartvigsen et al., 2018).
Zwischen 1990 und 2015 stiegen die durch Rückenschmerzen verursachten Jahre mit Beeinträchtigung um satte 54 %. Ursachen für diese Zahl sind vor allem das globale Bevölkerungswachstum und der demografische Wandel mit einer alternden Gesellschaft. Je älter die Weltbevölkerung wird, desto häufiger treten also auch Rückenschmerzen und die damit verbundenen Einschränkungen auf (Hartvigsen et al., 2018).
Aber warum beobachten wir diesen Anstieg von Rückenschmerzen überhaupt?
Gesellschaftliche Faktoren und Lebensstil
Sitzende Tätigkeiten: Mit der Zunahme von Berufen, die hauptsächlich im Sitzen ausgeführt werden, ist auch die Häufigkeit von Rückenschmerzen gestiegen. Ein inaktiver Lebensstil führt oft zu einer Schwächung der Muskulatur des Rückens.
Mangel an körperlicher Aktivität: Wenig Bewegung und eine allgemein schlechtere körperliche Fitness sind mit einem höheren Risiko für Rückenschmerzen verbunden.
Stress und psychosoziale Faktoren: Chronischer Stress, Ängste und Depressionen stehen in engem Zusammenhang mit Rückenschmerzen. Diese Faktoren können die Schmerzwahrnehmung erhöhen und zur Chronifizierung der Beschwerden beitragen. Auch der sozioökonomische Status spielt eine Rolle: Menschen mit geringerem Einkommen und weniger Zugang zu Gesundheitsdiensten sind überdurchschnittlich häufig von Rückenschmerzen betroffen (Hartvigsen et al., 2018).
Lebensstil: Menschen mit körperlich anspruchsvollen Berufen, Raucher, Menschen mit Übergewicht und solche mit körperlichen oder psychischen Begleiterkrankungen sind besonders gefährdet.
Therapeutische Missstände
Passive statt aktive Behandlung: Ein häufiges Problem in der Behandlung von Rückenschmerzen ist der übermäßige Einsatz passiver Therapien (wie Massage oder Wärmeanwendungen), während aktive Ansätze (wie spezifische Übungen zur Stabilisierung und Kräftigung der Muskulatur) oft zu kurz kommen. Bewegung und gezielte Übungen haben sich jedoch als effektivste Methoden zur Prävention und Behandlung erwiesen.
Fehlende ganzheitliche Therapieansätze: Rückenschmerzen sind sehr oft ein Ausdruck von Körper-Geist-Seele, und meistens fehlt in der Behandlung eine ganzheitliche Betrachtung. Nur bei einem kleinen Teil der Betroffenen gibt es eine klare pathologische Ursache, wie einen Wirbelbruch, eine Infektion oder einen Tumor. Auch darstellbare Veränderungen der Bandscheiben müssen nicht der Grund für die erfahrenen Symtome sein. Statt bloßer biomechanischer Betrachtung und Behandlungen wären Ansätze, die sowohl körperliche als auch psychische und soziale Aspekte berücksichtigen, möglicherweise wirksamer. Nur wenige Kräfte in der Physiotherapie verfügen über eine zusätzliche Ausbildung für verhaltenstherapeutische Interventionen.
Übermäßige Bildgebung und Medikalisierung: Der übermäßige Einsatz von Bildgebung (wie MRT oder Röntgen) kann zu einer Überbewertung von Befunden führen, die möglicherweise gar nicht für die Schmerzen verantwortlich sind. Das Ergebnis ist oft eine unnötige medizinische Behandlung, die in einigen Fällen sogar negative Auswirkungen haben kann (z. B. Angst vor Bewegung).
Schwierigkeiten in der Prävention und Langzeitbehandlung
Fehlende Präventionsmaßnahmen: Rückenschmerzen werden häufig erst behandelt, wenn sie bereits aufgetreten sind. Präventive Maßnahmen, wie Wissens- und Bildungsvermittlung durch Schulung und Programme zur Förderung körperlicher Aktivität, sind jedoch entscheidend, um Rückenschmerzen langfristig zu verhindern.
Bestehende Schmerzen durch Vermeidungsverhalten: Betroffene neigen häufig dazu, Aktivitäten zu vermeiden, aus Angst, die Schmerzen könnten schlimmer werden. Diese „Fear-Avoidance“-Strategie kann das Fortbestehen der Schmerzen begünstigen, da die Muskulatur schwächer wird und die Schmerzempfindlichkeit des Nervensystems steigt. Die Forschung zeigt, dass nicht nur physische, sondern auch zentrale Mechanismen und die Art und Weise, wie Menschen über ihren Schmerz denken, entscheidend sind. Schmerzmodulation durch das zentrale Nervensystem und negative Schmerz-Kognitionen können die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass akute Rückenschmerzen langfristig anahlten werden. Dies untertsützt bereits Beschriebenes: Eine ganzheitliche Behandlung, die sowohl physische als auch psychologische Aspekte umfasst, ist daher besonders wichtig, um langfristige Verbesserungen zu erreichen (Corp et al., 2021).
Moderne Behandlung von Rückenschmerzen
In vielen Fällen verschwinden akute Rückenschmerzen tatsächlich recht schnell, am Besten ohne Behandlung, jedoch sind Rückfälle häufig. Bei einigen Betroffenen entwickeln sich die Schmerzen zu einem Problem, das dauerhaft das tägliche Leben stark beeinträchtigt. Auch heute noch wird dieser Umstand in der Regel als "chronischer Rückenschmerz" beschrieben. Für viele Patient:innen
ist der Begriff "chronisch" jedoch negativ belegt und schürt Ängste und Hoffnungslosigkeit. Begriffe wie "langfristig anhaltende Schmerzen" oder "komplexe Beschwerden des Rückens" beschreiben die zeitliche Komponente der Schmerzen möglicherweise präziser und weniger belastend. Nicht nur sprachlich bedarf der Status Quo der Behandlung von Rückenschmerzen aktuell noch ein "wokes Update".
Rückenschmerzen sind selten nur ein physisches Problem. Vielmehr spielen psychosoziale Faktoren wie Stress, Ängste oder Arbeitsplatzprobleme eine entscheidende Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Schmerzen. Ein ganzheitlicher Ansatz, der psychologische Unterstützung bietet und psychosoziale Belastungen reduziert, hat sich als besonders wirksam erwiesen. Kognitive Verhaltenstherapie (CBT) wird in den Leitlinien empfohlen, um den Betroffenen zu helfen, den Umgang mit Schmerzen zu verändern, negative Denkmuster zu durchbrechen und die Selbstwirksamkeit zu stärken (Corp et al., 2021).
Die aktuellen Empfehlungen für die Behandlung von Rückenschmerzen in Europa setzen verstärkt auf nicht-pharmakologische Maßnahmen wie Bewegungstherapie, Aufklärung (wie auch Patient:innenschulung oder präventiver Gesundheitsbildung) und psychologische Unterstützung. Diese Methoden sind langfristig wirksamer, sicherer und kosteneffizienter als Medikamente, passive Therapien und Cortison-Spritzen (Corp et al., 2021). Bewegungsprogramme, Gruppentherapien und arbeitsbezogene Rehabilitation werden empfohlen, um Rückenschmerzen zu begegnen. Besonders wird auf Aktivität gesetzt, da Passivität und gar längere Bettruhe die Gefahr der Komplexität der Rückenschmerzen erhöhen können.
Digitale und virtuelle Lösungen: Behandlung zu Hause möglich?
In den letzten Jahren wurden digitale Gesundheitslösungen zunehmend als mögliche Ergänzung zur Behandlung von Rückenschmerzen untersucht. Eine randomisierte klinische Studie zeigte beispielsweise, dass ein 12-wöchiges virtuelles Yoga-Programm sicher, praktikabel und effektiv sein kann, um Rückenschmerzen zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern (Tankha et al., 2024).
Auch Telerehabilitation hat sich als vielversprechend erwiesen. Eine Übersicht zur Wirksamkeit von Telerehabilitation in der Physiotherapie zeigte, dass diese bei der Behandlung von Beschwerden des Bewegungsapparates, darunter Rückenschmerzen, vergleichbare Ergebnisse wie Präsenzrehabilitation erzielen kann (Seron et al., 2021).
Konsequenzen und ein Blick in die Zukunft: Mut für neue Methoden
Angesichts der weltweit zunehmenden Belastung durch Rückenschmerzen ist es essenziell, verstärkt in Forschung und Gesundheitsinitiativen zu investieren. Nur durch ein ganzheitliches Verständnis und die enge Zusammenarbeit zwischen Gesundheitsexpert:nnen, Forschenden und politischen Entscheidungsträgerkann es gelingen, die Last der Rückenschmerzen langfristig zu verringern.
Multimodale und Ansätze, die sowohl körperliche als auch psychische Aspekte berücksichtigen, sollten weiter gefördert werden. Zudem zeigen digitale Lösungen wie Telerehabilitation und virtuelle Programme, dass es Möglichkeiten gibt, Betroffenen überall und zeitnahe eine wirksameund frühzeitige (Selbst)Behandlung zukommen zu lassen.
Quellen
Hartvigsen, Jan et al. “What low back pain is and why we need to pay attention.” Lancet (London, England) vol. 391,10137 (2018): 2356-2367. doi:10.1016/S0140-6736(18)30480-X
Corp, Nadia et al. “Evidence-based treatment recommendations for neck and low back pain across Europe: A systematic review of guidelines.” European journal of pain (London, England) vol. 25,2 (2021): 275-295. doi:10.1002/ejp.1679
Tankha, Hallie et al. “Effectiveness of Virtual Yoga for Chronic Low Back Pain: A Randomized Clinical Trial.” JAMA network open vol. 7,11 e2442339. 4 Nov. 2024, doi:10.1001/jamanetworkopen.2024.42339
Seron, Pamela et al. “Effectiveness of Telerehabilitation in Physical Therapy: A Rapid Overview.” Physical therapy vol. 101,6 (2021): pzab053. doi:10.1093/ptj/pzab053
Nagel, Johanna et al. “Effects of Digital Physical Health Exercises on Musculoskeletal Diseases: Systematic Review With Best-Evidence Synthesis.” JMIR mHealth and uHealth vol. 12 e50616. 23 Jan. 2024, doi:10.2196/50616
Comments